Lothar Käser
Mythen
über Mission
Kritische
Anmerkungen eines Völkerkundlers
Kritik
an der Mission ist vielfältig, so sehr, dass die vorgebrachte Kritik oftmals
schon gar nicht mehr kritisch hinterfragt wird. Genau das aber tut Dr. Lothar
Käser. Er lebt in Schallstadt bei Freiburg und ist neben seiner Haupttätigkeit
als Studiendirektor an einem Gymnasium außerplanmäßiger Professor an der
Universität Freiburg und an der Freien Hochschule für Mission (CBS) in Korntal.
Er promovierte 1977 in Völkerkunde und habilitierte sich 1987 in dem gleichen
Fach. Mit freundlicher Genehmigung des Verfassers erscheint nachstehender
Beitrag in leicht gekürzter Form in der Homepage der Lutherischen
Kirchenmission. Er wurde ursprünglich in
"Mission weltweit", Zeitschrift der Liebenzeller Mission,
Nov./Dez.-Ausgabe 1999 veröffentlicht.
Das
Wort "Mythos" bedeutet im Griechischen etwa "Sage",
"Dichtung von Helden, Geistern, Göttern". Ethnologisch definiert sind
Mythen mündlich überlieferte, im Glaubensleben und in der Weltanschauung einer
Kultur verankerte Erzählungen. Ihre eigentliche Funktion ist es, Sachverhalte,
die nicht auf einfache Weise erklärbar sind, in eine Handlung zu kleiden, die
man griffig formuliert erzählen, über die man sprechen kann.
Dies
ist aber nicht eigentlich die Bedeutung, die in der Formulierung "Mythen
über Mission" enthalten ist. Wie ich das Wort hier benutze, bedeutet es
etwa "realitätsferne Vorstellungen und Ansichten über Mission, die in der
öffentlichen Meinung kursieren und meist mündlich geäußert und weitergegeben
werden". Damit sind derartige Mythen in besonderer Weise charakterisiert.
Als realitätsfernen Vorstellungen fehlt ihnen nämlich die sachliche Begründung.
Folglich sind sie als Vorurteile ausgewiesen, zu denen derjenige greift, der
sich zum Thema Mission äußern will oder muss, ohne genauere Kenntnis davon zu
haben, oder einfach, weil er sich den Anschein von Kompetenz verleihen will.
Diese
Art von Mythen zurechtzurücken, sie als falsch oder zumindest als einseitig zu
entlarven, ist nicht leicht, oft kaum möglich. Vor allem ist es nicht leicht,
dies mit wenigen Worten zu bewirken. Daher sind solche Mythen zählebig und wie
hartnäckiges Unkraut schwer auszurotten. In Wirklichkeit stellen sie sogenannte
einfache Lösungen dar, oder - anders gesagt - sie sind Versuche, das eigene
Vorurteil als berechtigtes und fundiertes Urteil erscheinen zu lassen.
Unter
den zahlreichen Mythen über Mission finden sich ganz platte, eher unbedarfte,
bis hin zu sehr subtilen, mit intellektueller Schärfe vorgetragenen, die aber
genauso wenig der Wirklichkeit entsprechen. Unter ihnen gibt es Mythen, die nur
von solchen Menschen für bare Münze genommen werden, die außerhalb einer
christlichen Gemeinde oder Kirche stehen und daher sehr wenig wissen darüber,
was Christsein ist und noch weniger, was Mission ist. Es gibt aber auch Mythen
über Mission, die innerhalb von Gemeinden und Kirchen gepflegt werden.
Es ist
mir nicht möglich, alle möglichen Mythen hier umfassend darzustellen. Ich habe
daher eine Auswahl der wichtigsten vorgenommen, die ich im Folgenden zu
widerlegen versuche, indem ich sie kommentiere.
1.
Mission ist Vernichtung von Kulturen
Es
handelt sich um denjenigen Mythos, den man am häufigsten hört. Merkwürdig daran
ist, mit welcher Selbstverständlichkeit er vertreten und wie wenig darüber
nachgedacht wird, was man in Wirklichkeit damit behauptet. Zwar gab es
Zerstörung von Kulturen. Unerfindlich ist aber auf jeden Fall, warum es die
Missionen gewesen sein sollen, die diese Zerstörung angerichtet haben.
Wir
wissen, dass es Zeiten gab, in denen Missionare bei der Verbreitung des
christlichen Glaubens militärische Gewalt als Mittel zum Zweck benutzten. Ich
erinnere damit an die Ereignisse bei der Eroberung Amerikas durch die Spanier
im 16. Jahrhundert. Dabei ist den Gesellschaften und Kulturen der Inkas, Mayas
und zahlreicher anderer indianischer Ethnien schwerer Schaden zugefügt worden.
Derartiges Verhalten von Seiten der Missionen gibt es schon seit langem nicht
mehr. Und schon damals, so die Quellen, waren es Missionare, die sich dem üblen
Treiben der Eroberer als Erste entgegenstellten und sich mit den Indianern
solidarisierten. Zerstörung von Kulturen durch die Arbeit von Missionen ist
eine seltene Ausnahme geblieben. Die meisten Missionen sehen sich heute unter
anderem vor die schwierige Aufgabe gestellt, die traurigen Reste von Kulturen
davor zu bewahren, völlig unterzugehen. Zahlreiche Kulturen und Sprachen gäbe
es gar nicht mehr, wenn sich Missionen nicht um ihre Träger, d. h. die
betreffenden Menschen, und damit um ihre Erhaltung gekümmert hätten.
Im
Übrigen herrschen etwas naive Vorstellungen von den Möglichkeiten, die
Missionen haben, Kulturen zu ruinieren. Kulturen lassen sich nicht zerstören in
einem Sinne, wie man sich das landläufig vorstellt, schon gar nicht durch
Missionare. Da überschätzt die öffentliche Meinung die Fähigkeiten von
Missionaren doch wohl erheblich.
Was
Missionen allerdings bewirken, ist Veränderung von Kulturen. Darin
unterscheiden sich Missionen nicht von Entwicklungshilfeorganisationen, nicht
von medizinischen Programmen zur Eindämmung von Seuchen oder zur Aufklärung der
Bevölkerung über Maßnahmen zur Kontrolle von Bevölkerungswachstum. Sie alle
verändern. Schulunterricht ist zum Beispiel ein ganz massiver Faktor bei der
Veränderung von Kulturen. Wenn solche Veränderung, auch durch Mission, von den
Betroffenen gewollt ist und in Zusammenarbeit mit ihnen geschieht, dann kann
eine solche Veränderung ja wohl kaum als Vernichtung zu verleumden sein.
Völlig
vergessen wird bei dieser Argumentationsweise, dass es ein Missionar war, dem
wir Europäer unsere eigene Kultur mit verdanken, dem Apostel Paulus nämlich. Er
hat mit dem Evangelium etwas ganz Neues in die antike Kultur und Gesellschaft
hineingebracht, mit enormen Folgen. Dabei ist manches in die Brüche gegangen,
wie wir aus der Geschichte wissen. Aber kaputt liegengeblieben sind die antiken
Kulturen danach doch wohl nicht. Was ist da alles entstanden?! Die gotischen
Kathedralen, die h-moll-Messe Johann Sebastian Bachs, unsere europäischen
Rechtsordnungen - alles kulturelle Höchstleistungen, die letztlich darauf
zurückgehen, dass sich ein Missionar wie Paulus und zahllose nach ihm auf den
Weg machten. War das Vernichtung von Kulturen? Doch wohl nicht. Im übrigen
unterscheiden sich die Missionen als Veränderer von Kulturen erheblich von den
anderen Veränderern wie zum Beispiel die Entwicklungshilfe. Entwicklungshelfer
treten immer auf in der erklärten Absicht, Veränderungen herbeizuführen. Diesen
Anspruch erheben die Missionen keineswegs mit der gleichen
Selbstverständlichkeit und Lautstärke.
2.
Mission ist Missachtung traditioneller Werte
Wie es
zu diesem Mythos gekommen ist, lässt sich nur schwer erklären. Sicher ist, dass
das Evangelium, das in einer Gesellschaft Fuß fasst, Veränderungen auch im
Bereich der Wertvorstellungen hervorruft. Diese Folge als missachtenden
Eingriff von Seiten der Missionen zu verunglimpfen ist falsch, denn die
entsprechenden Veränderungen werden von den Missionen nicht erzwungen, sondern
in aller Regel von den Betroffenen selbst vorgenommen. Von Missachtung ihrer
Werte kann also keine Rede sein. Im Übrigen können Missionare gegen
traditionelle Werte von Menschen nichts ausrichten, wenn die Betreffenden es
nicht selbst wollen.
Jede
Gesellschaft braucht Werte, um zu existieren. Es gibt aber in jeder
Gesellschaft auch Werte, die nicht dem Wohl der Gesellschaft dienen, sondern
schwere Belastungen zumindest für den Einzelnen und seine Familie bedeuten
können. Ich beschränke mich auf zwei Beispiele.
Es gab
Gesellschaften, in denen die Ehefrau(en) eines Mannes bei dessen Tod vor der
unausweichlichen Tatsache standen, ihm ins Jenseits folgen zu müssen, z. B.
durch die sogenannte Witwenverbrennung. Die Staaten, in denen dies früher
geschah, haben es inzwischen per Gesetz verboten. Wo Witwenverbrennung in
Gesellschaften üblich war, galt sie als hoher Wert. Witwen konnten sich ihm
nicht entziehen, ohne in schwere Gewissensnot zu geraten. Hätten sie sich
verweigert, dann hätten sie sich gegen die Tradition ihrer Gesellschaft
gestellt und wären gezwungen gewesen, als Ausgestoßene weiterzuleben, eine
Unmöglichkeit unter den Bedingungen schriftloser Kulturen. Was uns hier
interessieren muss, ist die Tatsache, dass die betroffenen Frauen durch die
Wertvorstellungen ihrer eigenen Tradition traumatische Gewalt erleben. Ist es
wirklich Missachtung traditioneller Werte, wenn sich Missionen gegen diese
Praxis äußern?
Ein
zweites Beispiel. In vielen Teilen Afrikas gilt es unter Frauen als hoher Wert,
beschnitten zu sein. Unbeschnittene Frauen gelten als unsauber, im schlimmsten
Fall als nicht heiratsfähig. Nur Prostituierte sind unbeschnitten. Dieses
körperliche Merkmal aufzuweisen bringt also hohes Prestige, indem es den Frauen
ihren eigentlichen Status als Ehefrauen ermöglicht. Also werden jedes Jahr
Zehntausenden von kleinen Mädchen im Alter zwischen acht und zwölf Jahren die
Genitalien beschnitten, mit der Rasierklinge oder einer Glasscherbe, ohne
Betäubung, unter schlimmsten hygienischen Bedingungen. Der Wert dieser Prozedur
erhöht sich unter Umständen noch dadurch, dass sie im Namen einer Religion
vorgenommen wird. Die körperlichen und psychischen Folgen für die Opfer sind
haarsträubend. Hier wendet sich Tradition massiv gegen den Menschen. So etwas
kann Gott nicht gewollt haben und nicht wollen, denn er hat den Menschen anders
erschaffen. Wenn dem aber so ist, dann machen wir uns schuldig, wenn wir nicht
dazu beitragen, dass solche traditionellen Werte verschwinden.
Tun
wir es nicht, machen wir uns unter Umständen sogar der unterlassenen
Hilfeleistung schuldig! Und nun noch einmal die Frage: Ist es Missachtung
traditioneller Werte, wenn sich Missionen gegen diese Praxis äußern?
3.
Mission fördert den Entfremdungs- und Entwurzelungsprozess
Dieser
Mythos bedarf einer Erklärung. Unter Entfremdungs- und Entwurzelungsprozessen
versteht man einen Vorgang, in dessen Verlauf eine Gesellschaft ihre Kultur, d.
h. ihre bisherige Lebensweise in einem umfassenden Sinn nach und nach aufgibt
oder verliert, weil sie in Kontakt mit einer anderen, übermächtigen Kultur
gerät. Dieser Prozess kann sogar bedeuten, dass die betreffenden Menschen ihre
Sprache aufgeben. Wie das konkret aussieht, mache ich am besten wieder an einem
Beispiel klar.
Die
Aka-Pygmäen in der Zentralafrikanischen Republik sind Wildbeuter, d. h. sie
leben vom Jagen und Sammeln. Um mit dieser Wirtschaftsform ihre Existenz zu
sichern, haben sie im Lauf der Jahrhunderte eine Fülle von Ritualen entwickelt,
z. B. solche für die Jagd auf Waldelefanten. Diese Rituale regeln unter anderem
die Rollen der Jäger in ihrer Gruppe, die Autoritätsstrukturen zwischen den
Alten und Jungen, und sie weisen jedem Mitglied seinen Platz in der
Aka-Gesellschaft entsprechend seiner Begabung zu.
Seit
einiger Zeit gibt es in ihrem Gebiet ein Sägewerk, in dem die großen
Urwaldbäume zu Bau- und Möbelholz verarbeitet werden. Die Männer der Aka finden
hier Arbeit, für die sie bezahlt werden. Ein Sägewerk, Lohnarbeit und die damit
verbundene Geldwirtschaft sind Elemente einer ganz anderen, schon rein technologisch
übermächtigen Kultur. Um in einem Sägewerk seinen Lebensunterhalt zu verdienen
braucht man keine Jagdrituale. Sie werden von heute auf morgen sinnlos, und
sinnlose Dinge werden von Menschen sehr schnell aufgegeben. Dies ist ein Aspekt
dessen, was man unter Entfremdungs- und Entwurzelungsprozessen versteht.
Seltsam
ist nun, dass man den Missionen die Förderung dieses Prozesses vorwirft. Sicher
ist, dass auch die Missionen Elemente in eine bestehende Kultur hineinbringen,
die Veränderungen bei den Menschen bewirken. Aber kein Missionar würde
versuchen, in die Art und Weise einzugreifen, mit der die Menschen ihre Nahrung
gewinnen, oder Veranlassung zu geben, ihren Lebensraum zu verlassen, um auf
diese Weise massive Entfremdungs- und Entwurzelungsprozesse zu erzeugen. Im
Gegenteil!
4.
Missionen sind verkappte Wirtschaftsunternehmen
Hier
handelt es sich um eine besonders platte Unterstellung. Vielleicht kam der
Mythos zustande, weil Missionen manchmal Dinge an die Menschen ihres
Arbeitsbereichs verkaufen, die sie ohne die Missionen selbst nicht bekommen
könnten, z. B. Medikamente. In einem solchen Fall ergibt sich eine weitere
Unterstellung: Warum verschenken Missionen so etwas nicht? Die Antwort ist ganz
einfach. Was nichts kostet, wird leicht verschwendet, in der Dritten Welt
genauso wie bei uns in Europa. Und aus dem Verschenken entstünde mit Sicherheit
ein
neuer
Mythos: Missionen "kaufen" einheimische Christen damit, dass sie
ihnen Dinge gratis liefern, die sie anders nicht bekommen könnten. Aus solchen Behauptungen
lässt sich ein
weiterer
Mythos konstruieren.
5.
Missionen nützen die wirtschaftliche Unterlegenheit und Not der Menschen ihres
Arbeitsgebiets für ihre Zwecke
Dieser
Mythos hat eine interessante Dimension. Man kommt der Wirklichkeit recht nahe,
wenn man ihn umkehrt: Die Menschen greifen auf die Missionen zurück, um in
ihrer wirtschaftlichen Unterlegenheit und Not der Ausbeutung durch andere nicht
hilflos ausgesetzt zu sein. Ein Beispiel:
In den
Achtzigerjahren hatte ich Gelegenheit, eine Zeit lang bei Asheninka-Indianern
am Pauti-Fluss in Peru zu verbringen. Sie pflanzen unter anderem Kaffee an.
Wenn sie nun ihren Rohkaffee an einen peruanischen Händler verkaufen, wiegt der
zunächst ihren Sack. Die Indianer kennen aber weder eine Waage noch Zahlen. Der
Händler kann sie betrügen, wie er will, und die Erfahrung hat sie gelehrt, dass
sie ständig übers Ohr gehauen werden. Was machen sie? Sie bitten einen ihrer
Missionare, sie zum Händler zu begleiten. Der Missionar kann lesen, schreiben
und eine Waage bedienen. Er kann also nicht betrogen werden. Und die Indianer
wissen, dass der Missionar seinerseits sie nicht betrügt. Sie wissen, dass sie
ihm vertrauen können. Einfach so.
In den
Anfangszeiten der Tätigkeit von Missionen allerdings waren sie auch eine Art
Wirtschaftsunternehmen. Missionare bekamen damals in der Regel keine
finanziellen Mittel für ihre Arbeit aus Europa. Das Geld musste erwirtschaftet
werden, indem beispielsweise landwirtschaftliche Produkte vermarktet wurden.
Ohne diese Mittel wäre Mission nicht möglich gewesen. Das hat sich inzwischen
vollständig gewandelt. Missionen und karitative Organisationen sind heute
praktisch die einzigen Fremden in den Riesenstädten der Dritten Welt oder den
Dörfern der Ureinwohner auf den Philippinen, die keine wirtschaftlichen, keine
touristischen (und keine sexuellen!) Interessen verfolgen.
6.
Missionen missachten den Wunsch einheimischer Organisationen, keine Missionen
in ihr Gebiet zu lassen
Es ist
unerfindlich, wie es zu diesem Mythos gekommen ist. Kein Missionar bricht
irgendwo mit selbstverliehener Machtfülle in den Bereich einer fremden Kultur
ein. Er hätte kaum eine Chance, denn es gibt gesetzliche Regelungen dafür.
Missionen müssen heutzutage strikt darauf achten, nicht in Konflikt mit den
Bestimmungen des Landes zu geraten, in dem sie tätig sind. Es gibt Regierungen,
die sehr kritisch darüber wachen. Das ist gut so. Im Übrigen sind einheimische
Organisationen den Missionen gegenüber in Wirklichkeit gar nicht so ablehnend,
wie der Mythos dies glauben macht. Im Gegenteil. Viele sind geradezu
interessiert daran, Missionen in ihr Gebiet zu bekommen. Der Grund dafür ist
recht einfach, und er ist im nächsten Mythos enthalten.
7. Missionen bringen die Bibel anstelle von Wissen, Bildung
und medizinischer Versorgung
Ein besonders interessanter Mythos. Auch er kommt der
Wirklichkeit erst nahe, wenn man ihn umkehrt. Wirft man einen Blick in die
Geschichte der (evangelischen) Missionen, so stellt man fest, dass die Bibel
den Menschen in den allermeisten Fällen erst verhältnismässig spät zugänglich
gemacht wurde. Aus einem einfachen Grund: Die Sprachen der Missionsgebiete
waren nicht verschriftet, und die Menschen konnten alle nicht lesen und
schreiben. Daher war regelmäßiger Schulunterricht etwas vom ersten, was die
Missionen einrichten mussten. Schulgebäude und Kirche waren folglich am Anfang
meist identisch, Wissen und Bildung also ein Element der ersten Stunde.
Diejenigen, die diesen Mythos verbreiten, machen sich keine
Vorstellung davon, was dieser Unterricht bedeutete. Nur so viel: Warum weiß
eigentlich niemand, dass so bedeutende afrikanische Politiker wie Kwame Nkrumah
(Ghana) und Kenneth Kaunda (Sambia) ihre Ausbildung in Missionsschulen
erhielten und nur dadurch in die Lage versetzt wurden, für die Befreiung ihrer
Länder und der dort lebenden Menschen vom europäischen Kolonialismus und
Imperialismus zu kämpfen und diesen Kampf auch zu gewinnen? Ich selbst habe
Anfang der Siebzigerjahre in Mikronesien erlebt, dass der Congress of
Micronesia, die Volksvertretung der mikronesischen Inselgruppen, einen Antrag
an das amerikanische Innenministerium stellte, wonach die kirchlichen Schulen
in gleicher Weise finanziell unterstützt werden sollten wie die öffentlichen.
(In den Vereinigten Staaten sind Kirche und Staat nach der Verfassung strikt
getrennt.) Die Begründung für diese Sonderregelung lautete, ausnahmslos jeder
Volksvertreter Mikronesiens habe seine Ausbildung auf einer kirchlichen Schule
erhalten, die von den jeweiligen Missionen seiner Inselgruppe ins Leben gerufen
worden war. Ohne die Missionen hätte es in der Tat keinen Congress of
Micronesia gegeben.
Was die medizinische Versorgung angeht, ist der Mythos
ebenfalls falsch. Überall stießen die Missionen auf Gesundheitsverhältnisse und
hygienische Problemsituationen, die z. B. die Kindersterblichkeit enorm hoch
sein ließ, mit entsprechendem Leid für die Mütter und Familien. Diesem Leid
konnten sie sich nicht verschließen und leisteten daher schon gleich am Anfang
ihrer Tätigkeit umfassende medizinische Hilfe, soweit dies unter den gegebenen
Umständen möglich war.
8. Bevor die
Missionen kamen, waren indigene (einheimische) Gesellschaften friedlich,
spannungsfrei und ethisch hochstehend
Ein Mythos, der sich zählebig hält, vielleicht deswegen,
weil er einem besonders tief empfundenen Wunschtraum der Menschen entspricht.
Esoteriker in der westlichen Welt fallen auffallend leicht darauf herein. Da
werden Behauptungen aufgestellt, die bei näherem Zusehen keine Grundlage
besitzen. Beliebt als besonders ethisch hochstehend sind die nordamerikanischen
Indianer in der Rolle von Umweltschützern. Ihre wildbeuterische Lebensweise
machte es erforderlich, dass sie sich der Natur so weit wie möglich anpassten,
und ihre ursprüngliche Lebensweise hat gewiss der Natur die geringstmögliche
Belastung und Veränderung zugemutet, die von Menschen überhaupt zu erwarten
ist. Das bedeutet aber nicht, dass Mensch und Natur mit dieser Wirtschaftsform
bewusst in Harmonie zusammengelebt hätten. So schonend, wie ihnen das
leichtfertig unterstellt wird, gingen die Indianer freiwillig mit der Natur
nicht um. Für einen Festschmaus brauchten sie bisweilen nur die Zungen von
Büffeln. Bei großen Gelagen tötete man so viele Tiere, dass man genug
Zungenfleisch zur Verfügung hatte. Das übrige ließ man verrotten.
Dass es nicht zum Raubbau an der Natur kam und bei heute
noch lebenden Wildbeutern nicht kommt, lag und liegt nicht so sehr an einer
moralisch hochstehenden wildbeuterischen Ethik (die es sicher bei einzelnen
Individuen auch gab und gibt!), sondern an der geringen Bevölkerungszahl und
-dichte, die es erlaubte und auch heute noch manchmal erlaubt, mit natürlichen
Ressourcen in dieser Weise umzugehen, ohne die Natur merklich zu belasten.
Manchmal wird argumentiert, die Indianer hätten vor ihrem
Kontakt mit Europäern nie etwas abgeschlossen, weil niemand gestohlen habe. Das
Stehlen hätten ihnen die Fremden beigebracht, und daher müssten sie heute
Schlösser benützen, um ihren Besitz zu sichern. Nichts ist naiver als eine
solche Sicht der Dinge. Wenn Indianer vor ihrem Kontakt mit Europäern das
Stehlen nicht gekannt hätten, dann hätte es das Wort "Dieb" in ihren
Sprachen nicht geben können. Das gab es aber! Besitz, sofern man ihn überhaupt
hatte, sicherte man dadurch, dass immer jemand zu Hause war, der Zeuge eines
Diebstahls werden konnte, oder man verhängte einen Fluch über einen möglichen
Dieb. Dieser Fluch wurde gefürchtet. Potenzielle Diebe mussten damit rechnen,
dass sie krank wurden, wenn sie sich an fremdem Eigentum vergriffen. Wenn Indianer
dies heute nicht mehr glauben, dann müssen sie vernünftigerweise Schlösser
anbringen, um Dieben ihr Handwerk zu erschweren.
Erstaunlich ist, mit welcher Fraglosigkeit in diesem Mythos
angenommen und behauptet wird, in fremden Kulturen, zumal in schriftlosen,
lebten die Menschen in spannungsfreien Sozialstrukturen und unter nahezu
paradiesischen Bedingungen. Wie wenig diese Ansicht berechtigt ist, hat Robert
Edgerton in seinem Buch "Sick societies. Challenging the myth of primitive
harmony" (etwa: Kranke Gesellschaften. Eine kritische Untersuchung des
Mythos von der Harmonie und Friedfertigkeit der Naturvölker. New York 1992)
nachgewiesen. Der Mythos beruht auf der irrigen Unterstellung, fremde
Gesellschaften und ihre Strukturen seien ausnahmslos positiv und vorteilhaft
für die Betreffenden, lösten deren Daseinsprobleme in idealer Weise, viel
besser jedenfalls als alles, was Europäer dazu zu sagen hätten. Aus dieser
unbewiesenen Annahme wird geschlossen, dass die Betroffenen diese Verhältnisse
und Strukturen auch so wollen, wie sie sind. Um zu erkennen, wie hohl so eine
Ansicht sein kann, braucht man nur einmal zu schauen, wie in solchen
Gesellschaften mit Tieren und erst recht mit Frauen umgegangen wird!
9. Missionen exportieren die Lebenseinstellung ihrer
Herkunftsgesellschaften
Hier handelt es sich um eine Behauptung, die eine gewisse
Berechtigung hat. Dass dies so ist, beruht auf einem einfachen Grund. Alles,
was Menschen tun und denken, ist von ihrer Kultur überformt. Kein Mensch kann
sich davon frei machen, auch Missionare nicht. Das Problem des Einzelnen liegt
darin, dass er seine Art zu denken, seine Art der Problemlösung, seine Art der
Weltsicht für die beste, für die richtige schlechthin hält. So ist es im
Menschen angelegt, ein anthropologisches Grundfaktum, gegen das er nur schwer
ankommt und das dazu führt, dass er die Tendenz hat, die Lebenseinstellung
seiner Herkunftsgesellschaft zu exportieren. Missionare stammten früher und
stammen heute noch vorwiegend aus der sogenannten Mittelschicht. Ihre
Berufsausbildung ist eher praktischer Natur. Theoretiker unter ihnen sind die
Ausnahme. Das Problem trat in der Vergangenheit besonders scharf hervor, weil
(evangelische) Missionare in der Regel Handwerksberufe erlernt haben mussten,
um unter den häufig schwierigen Umweltbedingungen ihrer Arbeitsgebiete
überleben zu können. Mit ihrem Handwerksberuf waren sie Vertreter eines
bestimmten sozialen Umfelds, eben der Mittelschicht, und mit dem Christentum,
das sie lehrten, gaben sie deren Normen und Werte weiter, ohne sich dessen
besonders bewusst zu sein. Heute ist das etwas anders geworden,
selbstkritischer in einem positiven Sinn, wie mir scheint, aber nicht
grundsätzlich anders. Das sollten die Missionen bei ihrer Vorbereitung von
Missionaren auf ihre Tätigkeit bedenken.
10. Missionen sind politisch konservativ, rechtslastig und
vertreten nie politisch progressive Absichten
Ebenfalls ein interessanter Mythos, den ich aber nur kurz
behandeln will. Er enthält zunächst einen Denkfehler: konservativ zu sein, bedeutet
weder rückständig noch rechtslastig zu sein, und linksorientiert zu sein, ist
nicht identisch mit progressiver Einstellung. Ein Paradebeispiel für das
Letztere sind kommunistisch regierte Länder. Sie nennen sich zwar lautstark
progressiv. Gleichzeitig versuchen sie, ihre Volkswirtschaften mit Hilfe einer
theoretischen Grundlage aus dem 19. Jahrhundert, dem Marxismus nämlich, in Gang
zu halten. Etwas Konservativeres, ja Rückschrittlicheres kann ich mir kaum
denken. Der Vorwurf an die Missionen, sie seien konservativ, taugt also nicht
viel. Ich sehe darin eigentlich einen vernünftigen Normalfall.
Im Übrigen halte ich es nicht für wichtig, ob man progressiv
oder konservativ ist. Wichtig erscheint mir, dass man handelt. Und das ist es,
was Missionen tun. Verkünder sogenannter progressiver politischer Ideen habe
ich noch nie in den Urwäldern Südamerikas, in den Savannen Afrikas oder auf den
einsamen Atollen Ozeaniens bei der Arbeit angetroffen. Sie kommen eigentlich
nur schriftlich vor, in entsprechenden Presseorganen und ihren Verlautbarungen
gegen die Missionen oder auch einmal in meinem Universitätsseminar; und auch da
nur dann, wenn es um Südamerika geht. Missionare dagegen treffe ich dort, auch
unter den schwierigsten Lebensbedingungen, solidarisch mit den Menschen, für
die sie sich verantwortlich fühlen.
11. Missionen sind Wegbereiter der Ausbeutung:
Ölgesellschaften und Holzfirmen folgen ihnen auf dem Fuß
Auch ein Mythos, bei dem ich mich frage, wie er sich
erhalten kann. Es gibt eine ganze Reihe von ernst zu nehmenden Untersuchungen,
die ihn mühelos widerlegen.
Es ist merkwürdig. Viele Missionare und kirchliche
Mitarbeiter sind heutzutage Dozenten, Berater, Bibelübersetzer, europäische
Partner einheimischer Organisationen und Interessensgruppen. Die öffentliche
Meinung aber zeichnet immer noch ein Bild zumindest des Missionars, das den
Eindruck erweckt, als ob nur er die Greuel europäischer Eroberer und deren
Kolonialismus zu verantworten habe, einen Kolonialismus, dem die Missionen den
Weg in fremde Welten erst freigemacht hätten, um sich anschließend bereitwillig
den kolonialen Unterdrückern als Handlanger für ihre
politisch-militärisch-wirtschaftlichen Ziele zur Verfügung zu stellen. Kaum
jemand nimmt zur Kenntnis, dass Missionare nur in seltenen Fällen die ersten
waren, die bei den Ureinwohnern neu entdeckter Gebiete auftauchten, sondern
ganz anders orientierte Fremde mit ganz anderen Wirkungen und
Hinterlassenschaften.
Als die Neuendettelsauer Missionare Johann Georg Reuther und
Carl Strehlow Ende des 19. Jahrhunderts in das Gebiet der australischen Aranda
kamen, fanden sie eine ganze Reihe von europäischen Viehfarmen vor, deren
Existenz von erheblicher Wirkung auf die Kultur der Ethnie gewesen war. Die
sogenannten Ausbeuter waren also längst da, als die Missionare kamen.
Entgegen verbreiteter Ansicht waren auch auf den Inseln der
Südsee die Missionare keineswegs die ersten Weißen, sondern Walfänger und
Sandelholzhändler, deren übles Treiben dazu führte, dass die Insulaner immer
mehr nach Missionaren auf ihren Inseln verlangten, weil sich herumsprach, dass
sie dann vor den Übergriffen der Schiffsbesatzungen sicherer waren. Missionare
stellten sich nämlich gegen ihre verbrecherischen Landsleute und machten deren
Machenschaften in ihren Heimatländern bekannt. Erst dadurch konnten sie durch
die Justiz verfolgt werden. Dokumentiert hat es Reiner Jaspers in seinem Buch
"Die missionarische Erschließung Ozeaniens", Münster 1972.
12. Missionen versuchen, glückliche Menschen völlig
unbegründet zu beeinflussen, anders zu werden
Ein letzter, aber sehr verbreiteter und populärer Mythos,
einer, der wohl besonders wenig der Wirklichkeit entspricht. Wo Menschen leben,
gibt es nie ungetrübtes Glück. Überall ist das Leben mit Unannehmlichkeiten,
Leid und Not gemischt. Das vermeintliche Glück, in dem die Menschen in fremden
Welten angeblich leben, lässt sich auf sehr subtile Art und Weise entlarven. Es
hat seine Spuren nämlich überall in den Sprachen der betreffenden ethnischen
Gruppen hinterlassen. Man kann es mit den Methoden der Ethnologie und der
allgemeinen Sprachwissenschaft sicher nachweisen. Ich selbst habe eine Zeitlang
die Sprache der Insulaner von Chuuk in der Südsee daraufhin untersucht und
Interessantes dabei festgestellt. In der Chuuksprache gibt es etwa 600 Wörter
für seelische Erlebnisse bzw. Empfindungen. Von diesen dienen 30 Prozent dem
Ausdruck von Freude, Hoffnung, Befriedigung usw., 60 Prozent dagegen drücken
Gefühle der Angst, Trauer, des Zorns und des Unbefriedigtseins aus! (Der Rest
drückt Vorgänge aus, die Europäer eher mit dem Intellekt in Verbindung
bringen.) Das heißt, dass diese Menschen, von denen bei uns gängige Meinung
ist, sie lebten in paradiesischem Glück, in Wirklichkeit doppelt so viele
Wörter zum Ausdruck von Unglück haben als zum Ausdruck von Glück. Daraus lässt
sich ablesen, dass diese Menschen ein Bedürfnis empfinden, sich über die
unangenehmen Seiten des Lebens doppelt so deutlich und differenziert
auszudrücken als über die angenehmen. Das ist wahrlich kein Hinweis auf
paradiesische Glückszustände, in denen die Missionen angeblich als
Unruhestifter wirken!
Zieht
man Bilanz in Bezug auf das, was die behandelten Mythen über Mission an
Wahrheit enthalten, so stellt man fest, dass sie sich von Mythen im
eigentlichen Sinne kaum unterscheiden. Sie alle enthalten höchstens einige
Körnchen Wahrheit. Die meisten verzeichnen die Wirklichkeit in grober Weise
oder behaupten das Gegenteil von dem, was ist.
Wenn
Missionen und ihre Tätigkeit beurteilt und die Veränderungen, die sie
bewirkten, heute rückblickend bewertet werden, kommt man anscheinend besonders
leicht zu einer Fehlbeurteilung. Die Öffentlichkeit neigt offenbar dazu, sie
als Veränderungen eines Idealzustandes zu sehen, in dem sich die betreffenden
Kulturen ursprünglich befunden haben sollen. Diese Ansicht lässt den Eindruck
entstehen, hier sei nicht nur verändert, sondern zerstört worden und dies sogar
überwiegend oder ausschließlich. So einfach aber ist die Sache keineswegs. Zwar
wurde den Menschen fremder Kulturen durch die fremden Missionare manches
genommen. Gleichzeitig wurde ihnen aber auch vieles gegeben. Das erfährt man
eindrucksvoll durch die Betroffenen selbst. Nirgendwo auf der Welt bin ich
Menschen begegnet, die durch die Arbeit der Missionen Christen geworden waren,
die auch nur das geringste Interesse daran geäußert hätten, in den vorherigen
Zustand zurückkehren zu wollen.